Fernöstliche Verirrungen

Martin Menking auf Hotelsuche

Der Zeitpunkt war alles andere als günstig. Martin Menking gehörte noch nicht fest zum Orchester, sondern befand sich in der Phase, in der man sich keine Schnitzer leisten sollte: dem Probejahr. Man sollte immer gut spielen, immer nett zu den Kollegen sein – und auf jeden Fall immer pünktlich zu Proben und Konzerten erscheinen.

Juli 1996. Asien-Tournee der 12 Cellisten. Erste Station ist eine japanische Kleinstadt. „Wir kamen mittags mit dem Bus vom Flughafen an. Ich wollte mich nach dem langen Flug bewegen und frische Luft schnappen.“ Wie eine ganze Reihe seiner Kollegen ist Martin begeisterter Jogger. Die Stadt wirkt übersichtlich. Nach zwei Minuten ist er völlig durchgeschwitzt, nach zehn Minuten ächzen die Atemwege unter der schlechten Luft und der hohen Luftfeuchtigkeit. Lieber umkehren. Ein Blick zurück – das Hotel ist weg! Komplett versunken im Häusermeer.

Noch 60 Minuten bis zur Abfahrt zum Konzert.
„Ich dachte, wenn ich jetzt weiterjogge, falle ich tot um.“ Er kehrt um.

Noch 50 Minuten bis zur Abfahrt.
Kein Hotel in Sicht. In den Laufschweiß mischt sich leichter Angstschweiß. „Shit, das hatte keinen Sinn, ich musste mich durchfragen. Aber wie?“ Ein Fitness-Studio verheißt Rettung. Erste Frage an die lächelnde junge Dame hinterm Tresen: „Do you speak English?“ Sie nickt: „Hai, hai, yes.“ Martin versucht, ihr zu erklären, dass in einem Hotel in der Stadt 12 Cellisten seien, das Hotel sei relativ groß, relativ gut und relativ nah, und heute Abend … „Irgendwann merkte ich, dass sie nichts verstand. Sie tippelte weg, und zwei andere junge Damen erschienen. – Do you speak English? – Hai, yes.“ Schnell stellt sich heraus, dass die beiden Japanerinnen des Englischen ebenso mächtig sind wie ihre Kollegin.

Noch 40 Minuten bis zur Abfahrt.
„Ich fing trotz Klimaanlage noch mehr an zu schwitzen, bekam ein Handtuch umgelegt, jemand drückte mir eine dicke japanische Version der Gelben Seiten in die Hand“. „Wie soll ich das lesen??“ Hastig blättert er die Abteilung „Hotels“ durch und findet tatsächlich eine Abbildung, die zu passen scheint. „Die Häuser sehen ja alle gleich aus, aber ich dachte, das könnte das Hotel sein.“ Er ruft an: „Do you speak English “ – „Hai, hai,yes.“ Nicht wirklich. Kein Englisch, keine 12 Cellisten, keine Berliner Philharmoniker.

Noch 30 Minuten bis zur Abfahrt.
Schließlich kommt der Chef des Fitness-Studios. „Ich rief ihm zu: Hotel! 12 Cellisten! Berliner Philharmoniker! Sehr freundlich wollte er mir ein Hotel raussuchen. Ich versuchte, ihm klar zu machen, dass ich kein Hotel bräuchte! Ich hätte schon eins! Ich würde da wohnen! Ich müsse da jetzt ganz, ganz schnell hin!“

Noch 20 Minuten bis zur Abfahrt.
„Ich war wahnsinnig panisch!“ Martin fällt ein, dass der Cellisten-Bus auf der Fahrt vom Flughafen unmittelbar vor dem Hotel rechter Hand ein Rotlichtviertel passiert hatte. Er schreit den Japaner an: „Red-light district! Prostitutes!“ – keine Reaktion. „Beautiful women!!“ – zögerndes Nicken. „Big boops!!!“ („große Brüste!!!“) und dazu eine entsprechend ausladende illustrierende Handbewegung: “Oh, yes, hai, hai, yes, yes, I understand, yes, hai!!“

Noch 10 Minuten bis zur Abfahrt.
»Die Kleidung klebte mir am Leib. Mir war kalt. Der Manager telefonierte aufgeregt.« Es stellt sich heraus, dass Martin eben genau das richtige Hotel angerufen hatte. Schließlich gelingt es auf japanisch, Georg Faust an die Leitung zu bekommen. »Als der dann einfach nur ›Hallo‹ sagte, ging für mich die Sonne auf!« Noch 5 Minuten bis zur Abfahrt. Das Hotel ist tatsächlich nur 200 Meter entfernt. Als Martin dort abgehetzt eintrifft, kommt ihm aus dem Aufzug, gelassen schlendernd, im Dinner-Jacket und bühnentauglich frisiert, Christoph Igelbrink entgegen: „Entschuldige mal, wo kommst du denn her, wir haben doch gleich Konzert?!?“

„Als ich dann bei der Anspielprobe erzählte, was mir passiert war, kam Wolfgang Boettcher mit einer Geschichte aus England und Götz Teutsch mit einer Geschichte aus Südkorea, wo sie sich ebenso verlaufen hatten. Typisch Cellisten, oder wie?“ Probejahr bestanden.